12.05.2015
Templeton-Preis für Jean Vagier
Gemeinsam lustiger leben
Als noch niemand das Wort „Inklusion“ kannte, hat er sie gelebt: Jean Vanier (86), der Gründer der Arche-Gemeinschaften für Menschen mit und ohne Behinderung. Jetzt bekommt er den hochdotierten „Templeton Preis“.
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Jean Vanier, Gründer der Arche-Gemeinschaften, wird mit dem Templeton-Preis geehrt. Foto: pa/dpa |
Bekanntlich ist eine Arche ein guter Ort, um zu überleben – wohl deshalb hat Jean Vanier sein erstes Haus so genannt. 1964 hatte er in Paris Menschen getroffen, die eher vegetierten als lebten: Menschen mit geistiger Behinderung. „Sie waren damals für viele Eltern eine Schande“, erinnerte sich Vanier kürzlich im Interview mit Radio Vatikan. „Es gab die Vorstellung, dass es eine Art Gottesstrafe war.“ Versteckt, weggesperrt, angebunden – so sah nicht selten ihr Schicksal aus. Vanier kaufte zusammen mit Freunden ein Haus und gründete eine Wohngemeinschaft. Raphael und Philippe waren die ersten Mitbewohner. Heute gibt es 147 Arche-Gemeinschaften in 35 Ländern. Und Jean Vanier lebt immer noch in der, die er 1964 gegründet hat.
„Wir betreuen nicht, wir leben miteinander. Auf Augenhöhe“, sagt Astrid Froeb, Sprecherin der Archen in Deutschland und Österreich. „Einander wertzuschätzen, wie man ist, ist ein Gewinn für alle.“ Natürlicher, menschlicher sei es, mit Menschen mit geistiger Behinderung zusammenzuleben. Und oft auch lustiger. „Wenn wir feiern, ist die Stimmung auch ohne Alkohol bombig.“
Tagsüber arbeiten gehen, nachmittags zurück nach Hause, gemeinsam für den Haushalt sorgen – in der Arche lebt man wie in einer Familie. Aber dieses Prinzip ist gefährdet, paradoxerweise gerade seit es die „Inklusionsdebatte“ gibt. „Wir würden gern weitere Archen gründen“, sagt Astrid Froeb. „Aber Archen gelten als ‚stationäre Plätze der Behindertenhilfe‘ und die werden abgebaut.“
Sind die Arche-Gemeinschaften gefährdet?
Denn „ambulante Hilfe“ ist das politische Gebot der Stunde. Jeder soll, wenn möglich, selbstständig leben, allein in einer eigenen Wohnung. „Das klingt gut“, sagt Astrid Froeb. „Aber viele Betroffene haben den Eindruck, dass Regierungen die Inklusion eher als Sparmaßnahme nutzen.“ Und viel zu wenig beachten, was wirklich nützt. „Vereinzelt zu leben, wird geistig behinderten Menschen nicht gerecht“, betont Froeb. „Ihre Stärke ist ja gerade das Miteinander und Füreinander.“ Doch Froeb weiß auch, dass sie auf hohem Niveau klagt. „In vielen Ländern Afrikas, Südamerikas oder in Indien ist die Situation für Behinderte katastrophal“, sagt sie. „Da würden wir noch viel mehr gebraucht.“
Um so wichtiger ist für diese Archen der „Tempelton Preis“, der am 18. Mai in London an Jean Vanier verliehen wird; er ist mit über einer Million Pfund (1,5 Mio. Euro) einer der höchstdotierten Preise der Welt und wird vergeben, um den Stellenwert der Spiritualtität zu betonen. Zu den früheren Preisträgern gehören Mutter Teresa, Desmond Tutu, Roger Schütz und der Dalai Lama. Mit Jean Vanier wird nun ein Mann geehrt, für den Inklusion kein politisches Programm, sondern ein Lebensstil ist. Ganz im Sinne Jesu.
Von Susanne Haverkamp