23.03.2022

Eine fast normale Freundschaft

Seit zehn Jahren (plus eins) besteht die Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Ziel: Die seltenen Begegnungen zur Normalität werden lassen. In kleinen Schritten gelingt das. 

Maria Schümann, Hilde Jüngling, Holger Marquardt, Yuriy Kadnykov am Rande einer Vorstandssitzung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit
Vorstandssitzung der Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit: Maria Schümann, Hilde Jüngling, Holger Marquardt, Yuriy Kadnykov. Zum Vorstand gehört noch Klaus-Dieter Kaiser, hier nicht im Bild. Foto: Andreas Hüser

„Ich bin noch nie einem Juden begegnet.“ Viele Mecklenburger und Vorpommern könnten das von sich sagen. „Ich schätze, dass 90 Prozent der Menschen tatsächlich noch nie Kontakt mit Juden hatten“, sagt der Schweriner Pastor Holger Marquardt, Mitbegründer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern. Oder begegnen sich Christen und Juden im Alltag, ohne es zu merken? 

Die Chancen dafür sind statis­tisch gestiegen. „Früher zählte die jüdische Gemeinde auch in den besten Zeiten nicht mehr als 300 Personen. Heute sind es 600“, sagt Landesrabbiner Yuriy Kadnykov. 1 200 Mitglieder haben seine Gemeinden in Rostock und Schwerin. „Der größte Teil unserer Gemeindemitglieder kommt aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion“, sagt Yuriy Kadnykov. Dass sie eine kleine Minderheit bilden, fällt nach außen kaum auf. „Hier sind ja auch alle anderen Religionen in der Minderheit“, so der Landesrabbiner, der selbst in der Ukrainischen SSR auf der Krim geboren ist. Für ihn und seinen Vorgänger Wil­liam Wolff ist eine wichtige Aufgabe, den Zugereisten in ihren Gemeinden erst einmal eine Einführung in jüdisches Leben und jüdisches Handeln zu geben. „Die Menschen müssen vieles lernen – es geht um Traditionen, aber auch darum, diese Traditionen bewusst zu leben.“

Damit Begegnungen zwischen Juden und Christen nicht ein seltener Zufall bleiben, gibt es die „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit.“ 1949 wurden nach dem Vorbild der USA und mehrerer europäischer Länder die ersten Gesellschaften in fünf westdeutschen Großstädten gegründet. Die größte gemeinsame Aktion ist die „Woche der Brüderlichkeit“, die jährlich im März stattfindet. Die jüdisch-christliche Gesellschaft in Mecklenburg-Vorpommern zählt zu den jüngsten im Kreis von 84 Gesellschaften mit insgesamt 20 000 Mitgliedern. 

„Irgendwann kam der Generalsekretär des Koordinierungsrates auf uns zu und sagte: In ganz Mecklenburg-Vorpommern haben wir noch keinen einzigen Verein“, so erinnert sich Pastor Holger Marquardt. Sehr wohl gab es christlich-jüdische Begegnungen. Bereits in der DDR existierten im Norden jüdisch-christliche Arbeitskreise, und nach der Wende entstanden enge Kontakte zwischen Repräsentanten beider Religionen. Für einen festen Verein sprach aber, dass so die Beziehungen eine Struktur bekamen und von einzelnen Personen unabhängig waren. So wurde vor elf Jahren die Gesellschaft gegründet, die eigentlich schon vor einem Jahr ihr „Zehnjähriges“ feiern wollte. 

Heute leben Juden fast nur in den Großstädten

„Zur Zeit haben wir 23 Mitglieder“, sagt die katholische Vorsitzende Maria Schümann. „Fünf davon sind jüdisch, der Rest etwa zu gleichen Teilen evangelisch und katholisch.“ Ein kleiner Kreis, aber mit größerer Ausstrahlung. „Wir hoffen, dass wir unser Projekt, die Virtualisierung der Alten Synagoge Schwerin, realisieren können“, sagt Maria Schümann. Anhand alter Fotos soll ein Rundgang durch die 1938 zerstörte Synagoge rekonstruiert werden, so als ob der Betrachter selber in der Synagoge stünde. 

Des Weiteren unterstützt die Gesellschaft Veranstaltungen wie die „Jüdischen Kulturtage“ in Ros­tock. „Dort sind wir in Podiumsdiskussionen vertreten, in denen es zuletzt um den Schabbat oder die Person Jesu ging“, sagt Pfarrerin Hilde Jüngling, Mitglied des Vorstands. „In Rostock herrscht kein Mangel an Veranstaltungen rund um jüdisches Leben und seine Geschichte. Aber auch in den kleineren Orten gibt es Aktivitäten.“

Dort allerdings leben Juden heute sehr vereinzelt. In Städten wie Stavenhagen, Goldberg, Krakow oder Boizenburg erinnern nur die historischen Synagogen an das einst rege jüdische Leben.

Das Verhältnis zwischen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung hatte gute Zeiten, auch schlechte und furchtbare. Die Erinnerung an die Sternberger Judenverbrennung von 1492 zeigt, dass nicht erst die Nationalsozialisten Juden verfolgten. 

Heute heißt es: die Vergangenheit nicht ignorieren, aber auch die Chancen der Gegenwart nutzen. „Die Menschen, mit denen wir jetzt leben, sind unbelastet von der Vergangenheit“, sagt Holger Marquardt. „Wir setzen auf das Vertrauen, dass man gemeinsam unterwegs ist.“ Gemeinsam unterwegs sein heißt aber auch, gemeinsam Stellung nehmen, wenn es sein muss. So im Januar, nachdem fast vergessene antisemitische Gedankenmuster in Querdenker-Demos und Corona-Verschwörungstheorien auftauchten. Aber es gibt auch ganz andere Wege, gemeinsam etwas zu tun. Etwa beim „Sukkot XXL“, dem Laubhüttenfest im Burggarten des Schweriner Schlosses, wo ein offenes Zelt als Laubhütte für alle Besucher offen stand. „Was wir tun können, ist: kleine Schritte gehen, die das Anliegen an die Basis bringen“, sagt Maria Schümann. Und sie gibt zu: „Es sind noch viele Türen zu öffnen.“ Das sei so wie der Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinde. Für Landesrabbiner Kadnykov bleibt auch nach den ersten Jahrzehnten viel tun. Aber das sieht er gelassen: „Mose hat schließlich auch 40 Jahre gebraucht, um durch die Wüste zu gehen.“ 

Text u. Foto: Andreas Hüser

Kontakt: Maria Schümann, Tel. 0385 / 39 45 71 71, E-Mail: maria.schuemann@web.de